Ein Stammbaum by Patrick Modiano

Ein Stammbaum by Patrick Modiano

Autor:Patrick Modiano [Modiano, Patrick]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-11-23T00:00:00+00:00


Im September, in Paris, werde ich in die Oberprima des Lycée Henri-IV aufgenommen, als Interner, obwohl meine Eltern nur ein paar hundert Meter vom Gymnasium entfernt wohnen. Seit sechs Jahren bin ich nun schon Internatszögling. In den vorigen Schulen hatte ich eine strengere Disziplin erlebt, aber kein Internat war für mich so schlimm wie das des Henri-IV. Vor allem dann, wenn ich die Externen durch das große Portal hinaus auf die Straße treten sah.

Ich erinnere mich nicht mehr allzugut an meine Internatskameraden. Ich glaube, drei Jungen aus Sarreguemines bereiteten sich auf die École normale supérieure vor. Ein Martinikaner aus meiner Klasse schloß sich ihnen häufig an. Ein anderer Schüler rauchte Pfeife und trug einen grauen Kittel und Filzpantoffeln. Es wurde erzählt, er habe das Gelände des Gymnasiums seit drei Jahren nicht verlassen. Ich erinnere mich auch verschwommen an meinen Schlafsaalnachbarn, einen kleinen Rothaarigen, den ich zwei, drei Jahre später von weitem auf dem Boulevard Saint-Michel in Militärklamotten gesehen habe, im Regen ... Nach dem Zapfenstreich ging ein Nachtwächter mit einer Laterne in der Hand durch die Schlafsäle und kontrollierte, ob jedes Bett auch wirklich belegt war. Das war im Herbst 1962, aber auch im 19. Jahrhundert und vielleicht in einer noch weiter zurückliegenden Zeit.

Mein Vater hat mich ein einziges Mal in dieser Schule besucht. Der Direktor des Gymnasiums hatte mir die Erlaubnis gegeben, unter dem Eingangsportal auf ihn zu warten. Dieser Direktor hatte einen hübschen Namen: Adonis Delfosse. Die Silhouette meines Vaters dort, unter dem Eingangsportal, aber ich kann sein Gesicht nicht erkennen, so als erschiene mir seine Anwesenheit unwirklich in dieser mittelalterlichen Klosterkulisse. Die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes ohne Kopf. Ich weiß nicht mehr, ob es ein Besuchszimmer gab. Ich glaube, unsere Zusammenkunft hat im ersten Stock stattgefunden, in einem Raum, der die Bibliothek war oder der Festsaal. Wir waren allein, saßen uns an einem Tisch gegenüber. Ich habe ihn bis ans Portal des Gymnasiums begleitet. Er ging über die Place du Panthéon davon. Eines Tages hatte er mir anvertraut, auch er sei mit achtzehn regelmäßig im Écoles-Viertel gewesen. Er hatte gerade genug Geld, um sich statt einer Mahlzeit einen Milchkaffee mit ein paar Croissants im Dupont-Latin zu bestellen. Damals hatte er einen Schatten auf der Lunge. Ich schließe die Augen und stelle ihn mir vor, wie er den Boulevard Saint-Michel hinaufgeht, zwischen den braven Gymnasiasten und den Studenten der Action française. Sein Quartier Latin war wohl eher das von Violette Nozière. Bestimmt war er ihr auf dem Boulevard oft begegnet. Violette, »die schöne Schülerin des Lycée Fénelon, die in ihrem Pult Fledermäuse züchtete«.

Mein Vater ist wieder verheiratet, mit der falschen Mylène Demongeot. Sie wohnen im vierten Stock, über meiner Mutter. Die beiden Stockwerke bildeten früher eine einzige Wohnung, als meine Eltern zusammenlebten. 1962 sind die beiden Wohnungen noch nicht voneinander getrennt. Hinter einer zugenagelten Tür gibt es noch immer die Innentreppe, die mein Vater 1947 hatte bauen lassen, als er sich im dritten Stock einmietete. Die falsche Mylène Demongeot legt keinen Wert darauf, daß ich Externer bin und meinen Vater weiterhin sehe.



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